Nr. 29 vom 22. Juli 2000

Bauernblatt für Schleswig-Holstein und Hamburg

Autor Dr. agr. Hans Peter Stamp

Logisch?

"Hiobsbotschaften und Horrorszenarien erwecken zumindest vorübergehend allgemeine Aufmerksamkeit. Entsetzliches Elend oder geschundene Kreaturen erschließen Mitgefühl, öffnen Herzen und natürlich auch Geldbeutel". Solche Gedanken haben Sie an dieser Stelle schon häufiger gefunden. Das vorstehende Zitat stammt allerdings nicht von uns, sondern von dem Sprecher des Zentrums für Umweltforschung der Universität Saarbrücken, Prof. Dr. Paul Müller. Er schrieb es vor vier Jahren in einer viel beachteten Arbeit über die Brauchbarkeit von Roten Listen. Noch etwas härter ein anderer Satz von Müller, den er ganz an den Anfang stellte: "Komplexe ökosystemare Vorgänge und Veränderungen, deren Wirkmechanismen und Regelkreise auch für die meisten Fachwissenschaftler Rätsel bilden, sind gerade wegen ihrer Komplexität ideale Betätigungsfelder für Politiker, Ideologen und Scharlatane."

Es gibt viele Leute, die mit wenig Kenntnis über Artensterben und die angeblich "immer länger werdenden" Roten Listen sprechen. 60 bis 70 Arten pro Tag sagte ein Vortragsredner vor einigen Tagen in Rendsburg seien es täglich, um die die Vielfalt auf Erden abnehme, 25000 pro Jahr. Fordert man solche Redner auf, von diesen 25000 nur 25 mit Namen zu nennen, geht regelmäßig das große Stottern los. Paul Müller hat zu den Annahmen für derartige Berechnungen gesagt: "Jeder Wissenschaftler, der sich mit tropischen Insekten und deren Adaptationen beschäftigte, weiß, dass die Annahmen reine Spekulation sind." Und um tropische Arten kann es nur gehen, denn in Deutschland gibt es gar nicht viel mehr als 25000 Arten. Also, Müller spricht von reiner Spekulation und meint die Zahlen aus den Tropen.

Solider sind die Schätzungen, soweit sie Deutschland oder das gut überschaubare Schleswig-Holstein betreffen. Und wenn wir über Naturschutz in Schleswig-Holstein reden, können wir uns getrost darauf zurückziehen. Aber auch bei uns kann man Überraschungen erleben. Eine solche Überraschung ist das Resultat der Auswertungen des Modellversuchs "Integrierter Landbau" in Rade bei Rendsburg. Ungefähr 1000 verschiedene Arten haben Dr. Cramer und seine Mitstreiter auf der Projektfläche von 44 ha gefunden, darunter 73 Arten von der Roten Liste. Cramer hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Arteninventuren belegen, dass Integrierter Landbau einen wertvollen Beitrag zur Biologischen Vielfalt leisten kann. Dabei muss man allerdings bedenken, dass Cramers Team nicht etwa Tiere oder Pflanzen ausgesetzt hat. Sieht man von Ausnahmen wie z.B. einigen Rastvögeln ab, war alles auch schon vor dem Modellversuch da. Vermehrt hat sich allenfalls die Zahl der Individuen pro Art, so dass man sie leichter finden konnte. Am sichersten ist dies bei den Pflanzen, bei denen eine Einwanderung am wenigsten wahrscheinlich ist. In Schleswig-Holstein gibt es laut Landschaftsprogramm 1371 Pflanzenarten und davon 652 auf der Roten Liste. In Rade fand man 250 Pflanzenarten und 10 von der Roten Liste. Rein theoretisch müssten sich überall im Lande auf Quadraten von 44 ha Fläche also 10 Rote Listen Arten finden lassen. Bei einer Landesfläche von 1,5 Mio. ha wären das rechnerisch 340000 Funde. Verteilt man dies gleichmäßig auf alle 652 Rote Liste Arten würde sich jede dieser Arten durchschnittlich gut 500 mal finden lassen, wohlgemerkt: durchschnittlich und rein theoretisch.

Noch ein Problem: Cramer hatte während der zehnjährigen Versuchszeit knapp 100 Leute zur Verfügung, über 30 davon mit wissenschaftlicher Ausbildung. Landesweit wird das ein Traum bleiben. Und bei manchen Arten gehört es zu ihrem Wesen, dass sie selten auftreten. Hierzu Müller: "Es gehört zu den großen Irrtümern unserer Zeit, dass ,Seltenheit‘ mit ,Gefährdetheit‘ gleich gesetzt wird. Dieser Irrglaube wird ... von liebenswerten Amateuren gespeist, die Seltenheit nicht als Anpassungsstrategie erkennen...". Und noch einmal Müller: "Für bestimmte Tiergruppen fehlen in Deutschland heute die Spezialisten." Es scheint also Arten zu geben, die man nicht finden kann, auch wenn sie da sind.