Nr. 20 vom 16. Mai 1998

 

Bauernblatt für Schleswig-Holstein und Hamburg

Autor Dr. agr. Hans Peter Stamp

Logisch?

Überall gibt es heute Experten, nicht wenige von ihnen haben sich selbst dazu ernannt. Darunter befinden sich etliche, die auf ihrem eigentlichen Fachgebiet wirklich hervorragende Kenntnisse haben, die aber gelegentlich ihr Fachgebiet verlassen, dennoch als Experten auftreten und dann unbrauchbare Aussagen machen. Selbst Rudolf Virchow, der ohne jeden Zweifel zu den größten Koryphäen der deutschen Medizingeschichte gehört, ist dies einmal passiert. Ihm wurde der berühmte Schädel aus dem Neandertal vorgelegt und er diagnostizierte die Abweichungen dieses 30000 Jahre alten Schädels von normalen heutigen Schädelformen als krankhafte Veränderungen. Virchow war ein ausgezeichneter Experte für Schädel heutiger Menschen, den Blick für die archäologische Komponente des Falles hatte er jedoch nicht.

Jüngst gab es eine interessante aktuelle Parallele zu dem Fall Virchow, parallel, wenn man davon absieht, dass in dem neuen Fall die Frage, ob die Aussage des angeblichen Experten wahr oder unwahr ist, erst in ferner Zukunft zu beantworten ist. Es geht um eine Prophezeiung des französischen Biologen und Mediziners Luc Montagnier, des Entdeckers des AIDS-Virus. In der Fachwelt ist man sich darüber einig, dass der derzeitige Leiter der Virus-Forschungsabteilung des Pariser Pasteur-Instituts zu den bedeutendsten Wissenschaftlern unseres Jahrhunderts gehört und vermutlich dereinst medizingeschichtlich mit Persönlichkeiten wie Virchow in einem Atemzug genannt werden wird.

Nur, mit seiner jüngsten Prophezeiung zur Zukunft der Menschheit dürfte er gründlich daneben liegen. Montagnier, der übrigens auch bei Äußerungen zu seinem Fachgebiet apokalyptische Tendenzen erkennen lässt, wird zur Frage der Zukunft der Menschheit von einer großen deutschen Zeitung wie folgt zitiert:

"In einigen hundert Jahren wird ein Leben auf der Erde sowieso kaum mehr möglich sein, weil wegen der explodierenden Bevölkerungsvermehrung nicht mehr genug Platz für alle da sein wird. Eine Überlebenschance für die Menschheit sehe ich nur, wenn sie auf andere Planeten expandiert. Man wird auf den Mond oder auf den Mars umsiedeln und Stationen im Weltall zum Leben schaffen müssen."

Die Bevölkerungswissenschaftler gehen heute davon aus, dass die Erdbevölkerung sich schon in den nächsten 50 bis 80 Jahren noch einmal verdoppeln und danach stagnieren wird. Es mag eine offene Frage sein, ob dann für alle Menschen genug Platz auf der Erde ist, aber sollte dies in 80 Jahren der Fall sein, wird das in "einigen hundert Jahren" kaum anders sein. Montagniers Bevölkerungstheorien mögen ja sogar noch aufgehen, aber seine Perspektiven bezüglich der Lebensmöglichkeiten auf Mond und Mars sind doch wohl gänzlich abwegig. Im

Vergleich mit diesen beiden Kugeln sind Arktis und Antarktis ebenso wie die Wüsten der Erde und mehr noch die Weltmeere gemütliche Wohnstuben, wo sich mit Sicherheit leichter Lebensmöglichkeiten schaffen lassen als auf Mond und Mars. Wollte man so viele Menschen zum Mars bringen, dass dadurch die Erde entlastet wird, müssen die Aufwendungen zur Schaffung von Lebensmöglichkeiten auf dem roten Planeten ungeheuerlich sein. Und, um einen Menschen nur einmal zum Mars zu bringen, braucht man soviel Energie, wie nötig wäre, für ihn auf der Erde jahrzehntelang Nahrung zu erzeugen. Lassen wir ihn doch gleich hier!

Was kann man aus dieser Geschichte folgern? Vertraue niemals dem Votum von Leuten, seien sie auch noch so berühmt oder genial, wenn sie über Dinge reden, von denen sie nicht genug verstehen. Oder anders: Eine Aussage ist um so verdächtiger, je mehr Unterschriften von Nobelpreisträgern darunter stehen; denn, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Nichtexperten in der Mehrheit sind. Leider wächst bei vielen Menschen, je mehr Anerkennung sie auf ihrem eigentlichen Gebiet erfahren, die Neigung, sich für alles zuständig zu fühlen. Man kann das auch Missbrauch von Autorität nennen.