Nr. 36 vom 5. September 1998

 

Bauernblatt für Schleswig-Holstein und Hamburg

Autor Dr. agr. Hans Peter Stamp

Logisch?

Was würden Sie von einer Einwohnerstatistik in einer Gemeinde halten, die nur die Todesfälle und Wegzüge registriert und auf diese Weise zu einer immer stärker abnehmenden Bevölkerungszahl kommt? Sicher, da fehlt etwas. Nach diesem Prinzip aber verfahren die bei

uns geführten Roten Listen für Pflanzen- und Tierarten. Zugegeben, der Vergleich mit der Einwohnerstatistik hinkt ein wenig. So verläuft der Prozess der Entstehung neuer Arten so langsam, dass das Pendant zu den Geburten, die "Geburt" neuer Arten in den für Menschen überschaubaren Zeiträumen nur selten vorkommt.

Problematisch ist es aber, dass die Roten Listen nicht mit den Zuzüglern bilanzieren. Das Institut für Landwirtschaft und Umwelt (ilu) in Bonn hat hierzu eine vorläufige Literaturauswertung vorgenommen und kommt zu dem Ergebnis, dass es nach gründlicherer Untersuchung womöglich die Aussage geben kann: "Eine vollständige floristische und faunistische Betrachtung kommt unter Berücksichtigung der zugewanderten Arten zu dem Schluss, dass es in Deutschland heute mehr Tier- und Pflanzenarten gibt als je zuvor." Es wäre doch interessant, entsprechende gründliche Untersuchungen zu machen. Das ilu kann u.a. wie folgt zitiert werden: "Bis 1990 sind ca. 250 Neusiedler unter den Pflanzenarten (Sukopp, 199x) beschrieben, denen ca. 50 in Deutschland nicht mehr vorkommende Arten gegenüberstehen (Bundesamt für Naturschutz 1995)." Auf Wunsch (Fax: 0228/9799340) kann von ilu weiteres Material bezogen werden.

Neusiedler können zu heimischen Arten werden. Türkentaube und Karmingimpel, das drüsige Springkraut oder der Waschbär sind beispielsweise inzwischen fest eingebürgert. Auch wenn die Neuankömmlinge ökologisch nicht immer positiv bewertet werden, gibt es doch keinen Grund zu der Annahme, dass sie schnell wieder aus Deutschland verschwinden. Es ist ein dynamisches System, dass Verbreitungsgrenzen sich über nationale Grenzen hinweg ausdehnen sich aber auch zurückziehen können. Diese Dynamik wird auch im Bundesnaturschutzgesetz berücksichtigt, für natürlich eingewanderte Arten und auch für Arten, die vom Menschen importiert wurden. Für letztere heißt es: "Als heimisch gilt eine wildlebende Tier- oder Pflanzenart auch, wenn sich ... durch menschlichen Einfluss eingebürgerte Tiere oder Pflanzen ... im Geltungsbereich dieses Gesetzes in freier Natur und ohne menschliche Hilfe über mehrere Generationen als Population erhalten."

Diese Arten "gelten" als heimisch. Wann "sind" sie es dann auch? Dies ist sicherlich eine spannende Frage für Ökologen, auf die wir hier nicht eingehen wollen. Eines ist jedoch sicher, die meisten der Arten, deren Erscheinen auf den Roten Listen wir heute beklagen, sind auch Einwanderer. Bei ihnen ist es nur länger her. Wir haben es hier also ganz offenbar mit einem relativen Problem zu tun, frei nach der inzwischen neun Jahre alten Anekdote, bei der ein türkischer Bewohner Kreuzbergs zu erstmals in seinem Aldi-Laden auftauchenden Ostberlinern sagt: "Wir Euch nicht gerufen!"

Viele der in der Pflanzenwelt heute bedrohten "Hungerkünstler" haben sich vor einigen Jahrhunderten auch nur deshalb ausbreiten können, weil die Landwirtschaft damaliger Zeiten das Gegenteil von nachhaltiger Bewirtschaftung, nämlich Raubbau, betrieb. Da wurden nicht nur Arten vom Menschen importiert, es wurden sogar neue Lebensräume für derartige Arten geschaffen. Hätte es vor Jahrhunderten Menschen gegeben mit gleicher Denkrichtung wie unsere heutigen Sikahirsch-Verfolger, hätten sie vermutlich gegen die Plaggenwirtschaft einen Aufstand angezettelt wegen Umweltverwüstung. Hätte ein solcher Aufstand Erfolg gehabt, wären unsere Roten Listen heute kürzer.