Nr. 44 vom 31. Oktober 1998

 

Bauernblatt für Schleswig-Holstein und Hamburg

Autor Dr. agr. Hans Peter Stamp

Logisch?

Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie hat sich jüngst veranlasst gesehen, mit einem sehr plakativen Vergleich zu den Nebenwirkungen von Medikamenten in die Öffentlichkeit zu gehen. Hintergrund war eine Diskussion darüber, dass viele Menschen inzwischen regelmäßig zum Teil mehrere verschiedene Medikamente täglich zu sich nehmen, und dass allein schon durch die vorgeschriebenen Regeln bei der Fernsehwerbung das Thema

stets überall gegenwärtig ist.

Durch die Nebenwirkungen von Medikamenten würde in Deutschland, so der Verband, tatsächlich die durchschnittliche Lebenserwartung verringert, und zwar um 37 Minuten. Um diesen Zeitraum würden die Menschen in Deutschland theoretisch länger leben, wenn auf den Einsatz von Medikamenten völlig verzichtet würde. Gleichzeitig rechnet der Verband vor, dass damit aber auch auf alle positiven Wirkungen der Medikamente verzichtet würde, und die hätten eine Lebensverlängerung von etwa 15 Jahren zur Folge. Es heißt, dass dieser Vergleich zu einer Versachlichung der Diskussion deutlich beigetragen haben soll, was bei nüchterner Betrachtungsweise eigentlich auch nicht anders sein konnte. Wenn die Vorteile die Nachteile so drastisch überwiegen, kann das Ergebnis unter vernünftigen Menschen kaum anders sein. Wer verzichtet schon auf die Narkose bei Operationen, auch wenn er weiß, dass Narkoseunfälle vorkommen?

Wer die Diskussion in diesem Bereich verfolgt, kann die Vorbehalte nur schwer verstehen, die es gegenüber Rückständen von Agrarchemikalien gibt. Der von der Bundesregierung in Auftrag gegebene und alle vier Jahre erscheinende Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung referiert z.B. regelmäßig die Höchstmengenüberschreitungen von Pflanzenschutzmitteln in pflanzlichen Produkten, insbesondere Obst und Gemüse, und stellt zu den veröffentlichten Werten fest: "dass eine solche Höchstmengenüberschreitung keinerlei

Risiko für die menschliche Gesundheit bedeutet". Wohlgemerkt: "Keinerlei" Risiko, auch nicht solche leichteren Risiken, die das Leben gar nicht verkürzen, stellt der Ernährungsbericht fest. Und lebensverkürzende Wirkungen sind schon gar nicht zu befürchten, auch nicht solche, die zu einer Minderung der Lebenserwartung um 37 Minuten führen. Dies hindert einige illustrierte Zeitschriften nicht an Versuchen, von Zeit zu Zeit ihre Auflagen mit Überschriften wie "Pestizide im Gemüse" oder allgemeiner "Gift in der Nahrung" anzukurbeln. Sie machen dies vermutlich deswegen, weil sie meinen, ihre Leser zu kennen, und sich von Berichten über Nahrungsrisiken größere Aufregung beim Leser versprechen. Der Leser, der die tatsächlich vorhandenen Nebenwirkungen von Medikamenten bewusst in Kauf nimmt, lässt sich dadurch nicht aufregen. Denn er weiß, wie er sich ohne die

Medikamente fühlt. Die von den Illustrierten nur behaupteten und tatsächlich gar nicht vorhandenen Risiken aber regen ihn auf, weil er schlecht informiert wird. Die Medien nutzen hier einen Effekt, der sich daraus ergibt, dass bewusst eingegangene Risiken niedriger bewertet werden als andere, auch wenn diese unvergleichlich kleiner oder gar nicht vorhanden sind. Es gibt nur ein Mittel dagegen, und das ist Aufklärung. Aufklärung, die den Interessen der Medien entgegen läuft, ist aber besonders schwer durchzusetzen.

Es sei am Rande erwähnt, dass der Ernährungsbericht den Hinweis auf "keinerlei Risiken" mit gleicher Deutlichkeit für importiertes Obst und Gemüse gibt, obgleich dort der Anteil der Höchstmengenüberschreitungen dreimal so hoch ist, wie bei heimischen Produkten. Wir sollten der Versuchung widerstehen, in diesem Bereich von uns aus die falschen Akzente zu setzen. "Keinerlei" ist "keinerlei", und wenn wir hier relativieren, dürfen wir uns nicht wundern, wenn andere es auch tun.